Chemnitz erzählt als Kulturhauptstadt Europas die Geschichte der europäischen Manchester – und von erfolgreichen Transformationen
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das sächsische Chemnitz nicht mehr als eine Kleinstadt. Genau 10.835 Einwohner zählte die Bevölkerungsstatistik 1801. Zwanzigmal (!) so viele, fast 207.000 Menschen, waren es 100 Jahre später – die industrielle Revolution ließ die Bevölkerungszahl geradezu explodieren, erst 1931 erreichte diese mit 360.000 Bewohnern ihr Allzeit-Hoch: Textilindustrie und der dazugehörige Maschinenbau in den Anfängen, später fast alle Industriebereiche von der Metallverarbeitenden Industrie über den Gerätebau und den Fahrzeugbau bis hin zu Chemischer oder Lebensmittelindustrie – Chemnitzer Produkte erlangten Weltruhm. Chemnitz war das „Sächsische Manchester“ und nicht zufällig war es der Chemnitzer Oberbürgermeister Dr. Wilhelm André, der gemeinsam mit Werner von Siemens das Deutsche Patentschutzgesetz entwickelte. In Chemnitz, das zwischendurch Karl-Marx-Stadt hieß, zeugen bis heute über 400 Industriebauten von dieser Phase der Stadtgeschichte. In den wenigsten findet heute noch Industrie statt.
Manchesters, wohin man blickt
Es ist ein Schicksal, wie es Chemnitz mit einer Reihe europäischer Städte teilt. Mit dem „polnischen Manchester“ Łódź etwa, dem „französischen Manchester“ Mulhouse, dem finnischen Tampere, dem bulgarischen Gabrovo und nicht zuletzt mit dem Namensgeber des Manchester-Kapitalismus: Manchester. Nicht umsonst zählen diese (bis auf Gabrovo) zu den Chemnitzer Partnerstädten – man teilt eine ähnliche Historie, man muss einen Umgang damit finden. Wie entwickelt man eine postindustrielle Wirtschaftsstrategie? Wie soll man mit dem industriekulturellen Erbe umgehen? Und was bedeutet dies für die Stadt der Zukunft?
2025 ist Chemnitz eine der Kulturhauptstädte Europas. Unter dem Motto „C the Unseen“ tritt man aus dem Schatten der Nachbarn Leipzig und Dresden, stellt sich ins Scheinwerferlicht der europäischen Aufmerksamkeit – und erzählt europäische Geschichte(n). Zum Beispiel die der verschiedenen europäischen Manchester. Eine große Ausstellung im Chemnitzer Industriemuseum ist der Frage gewidmet, wie spannungsreiche Transformationsprozesse in unterschiedlichen Städten auf der Basis unterschiedlicher historischer und gesellschaftlicher Voraussetzungen in Angriff genommen und bewältigt werden können: „Tales of Transformation“ heißt die Schau, die bis November des Jahres zu sehen ist.
Umnutzung setzt Nutzer voraus
Dabei haben all die Manchesters, von denen die Ausstellung berichtet, ihre ehemaligen Industriehallen, die zu Luxuslofts umgebaut wurden. Riesige Unternehmensareale wurden zu neuen Stadtteilen, Industriebauten zu Universitäten, Atelierhäusern, Freizeitparks. Wie Gräser und Birken in einer stillgelegten Baugrube durften oft zunächst Kreative und Lebenskünstler als Pioniernutzer lebenserhaltende Maßnahmen an verfallenden Industriebauten vornehmen – bevor das eine oder andere Gebäude einer kommerzielle(re)n Nutzung zugeführt wurde. Das Chemnitzer Industriemuseum steht beispielhaft dafür: Seine Hülle beherbergte einst eine Gießerei.
Doch sinnvoll möglich – und auch das zeigt die Ausstellung paneuropäisch eindrucksvoll – wird diese Umnutzung nur, wenn eine entsprechende Nachfrage herrscht. Wenn weiterhin Menschen in den Städten wohnen wollen, wenn die Bewohnerschaft hier eine Zukunft sieht, weil alte und junge Unternehmen Arbeitsplätze erhalten und schaffen; wenn also neben dem Gesicht der Stadt auch die sie nährende Wirtschaft transformiert wird.
Transformation in die Zukunft
Die Ausstellungsmacher von „Tales of Transformation“ erzählen auch diese Geschichte – und holten sich dafür Unterstützung aus dem heimischen Gründerzentrum. Jens Weber, Geschäftsführer des Technologie Centrum Chemnitz GmbH, stand bei der Auswahl beispielhafter Chemnitzer Jung-Unternehmen, die für diese Transformation stehen, beratend zur Seite. Die ligenium GmbH beispielsweise: Das Start-up entwickelt Materiallösungen für Maschinenbau, Produktion und Logistik und setzt dabei auf Holz- und Holzverbundstoffe. Es ist eine Idee, die ihre Ursprünge in den verwegenen Holzkonstruktionen im historischen Bergbau des benachbarten Erzgebirges hat und die nun – wortwörtlich – wieder zum Tragen kommt: in hölzernen Ladungsträgern, Transportwägen, Lastenaufzügen, Werkstückträgern zum Beispiel. Die Fahrzeugindustrie nutzt all dies, um ihre CO2-Bilanz aufzubessern – Transformation at it’s best.
Auch die Geschichte der Novajet GmbH wird in „Tales of Transformation“ erzählt. Wie ligenium ist auch Novajet eine Ausgründung aus der lokalen Technischen Universität, wie ligenium hat Novajet im Technologie Centrum Chemnitz eine Heimat gefunden. Hier hat man sich der Revolution des Wasserstrahlschneidens verschrieben: Das im Wasserstrahl eingebettete Abrasivmaterial, scharfkantiger Granatsand, wird im Gegensatz zu herkömmlichen Anlagen gemeinsam mit dem Wasser beschleunigt. Das erhöht den Wirkungsgrad deutlich und senkt den Wasserverbrauch um 90 Prozent – und auch der Sand kann mehrfach genutzt werden. So trifft Ökonomie Ökologie. Doch nicht nur schneiden können die Maschinen von Novajet, sondern auch gravieren oder bohren, sodass von Autoteilen und Flugzeugkomponenten bis zu medizinischen Präzisionsbauteilen verschiedenste Werkstücke produziert werden können. In der Ausstellung wird die Bandbreite der Möglichkeiten mit einer Reihe von schmucken Miniaturen präsentiert.
Chemnitz' eigene Reeperbahn
Und schließlich findet auch die TROWIS GmbH Beachtung in der Ausstellung. Auch dieses Unternehmen basiert auf Entwicklungen in einer regionalen Hochschule, in diesem Fall der Hochschule Mittweida, wo die Gründer an Hightech-Hochleistungsfaserseilen zum Beispiel für Lastkräne oder Aufzüge forschten. Durch spezielle Faserstoffe erreicht TROWIS nicht nur höhere Zugfestigkeiten als bei herkömmlichen Stahldrahtseilen, und das bei deutlich verringerten Gewicht; zugleich ermöglichen diese Fasern eine permanente Zustandsüberwachung: Das Seil kontrolliert selbst, ob es noch belastbar ist. Dank Expertise in der Ummantelung von Seilen konnte in den vergangenen Jahren auch die maritime Industrie in den Blick genommen werden – damit sind die Chemnitzer der einzige Seilhersteller in Europa, die Faserseile mit Ummantelungen aus Kunststoff bzw. Faserverbundwerkstoffen ausrüsten können – und das Technologie Centrum Chemnitz hat nun seine „hauseigene Reeperbahn“.
Dass diese Geschichten im Chemnitzer Kulturhauptstadt-Jahr Beachtung finden, belegt, wie ernst man es in Chemnitz mit dem Motto „C the Unseen“ meint. Den Start-ups ist damit gelungen, was so mancher aufstrebende Künstler sich erträumt: Dabei sein in einer großen Ausstellung. Sprich: Museabilität.